Kriegswinter 1915. Zitternd hält der Kanonier Jakob Müller* im Schützengraben einen Feldpostbrief in seinen Händen. Aus dem Absender erkennt er: Der Vorsteher hat ihm wieder einen Brief mit Heiligem Abendmahl und einen Brotbrief des Stammapostels Niehaus geschickt.
Als sich am Abend das Gefechtsfeuer etwas gelegt hat, zieht er sich in eine Ecke im Schützengraben zurück. Wieder zittern seine Hände, als er den Brief des Stammapostels an die neuapostolischen Soldaten liest. Ehrfurchtsvoll ergreift er die beträufelte Hostie, betet leise ein Unser Vater und fühlt in seinem Herzen ein großes Wohlbehagen in dieser unwirschen Umgebung.
Eine Herausforderung: Brot und Wein für die Soldaten im Feld
Seine Gedanken gehen zurück an die ersten Wochen des Krieges. Damals wurde den Soldaten noch eine unbeträufelte Hostie und ein kleines Fläschchen mit ausgesondertem Messwein zugesandt. Wie oft war es vorgekommen, dass das Päckchen geöffnet und der Wein entwendet worden war. Auf der Suche nach Zigaretten wurden viele kleinen Feldpostpäckchen auf dem Weg zum Empfänger heimlich geöffnet und die Zigaretten entwendet. Auch der Schluck Rotwein war dann nicht sicher.
Stammapostel Niehaus lag die seelsorgerische Betreuung der Feldgrauen – wie man die Soldaten des Heeres damals auch nannte-. sehr am Herzen. Auch die Frage, ob die Hostie ohne Abendmahl gültig wäre, beschäftigte ihn und die Apostel. Stammapostel Niehaus hatte dann eine Idee: Er ließ die Hostien mit 3 Tropfen Rotwein beträufeln und sonderte sie dann aus. So erhielten die Soldaten auch ohne Rotwein eine ausgesonderte Hostie, die sowohl Leib wie auch Blut Christi symbolisierte.
Wein ist Mangelware und rationiert
Auch in der Heimat gestaltete sich die Abendmahlsfeier immer schwieriger. Ein Grund war die Rationierung des Weins, weil eben keine Rotwein mehr aus den Weinanbaugebieten bezogen werden konnte. Und der Verbrauch war nicht gerade gering, weil mancher Gottesdienstbesucher in Ermangelung eigenen Weins stets einen kräftigen Schluck aus dem Kelch nahm.
Die Tuberkulose hält vom Trinken aus einem Kelch zurück
Eine andere Sorge vieler Geschwister war, sich beim Trinken aus dem gemeinsamen Kelch mit Tuberkulose anstecken zu können. Stammapostel Niehaus bat die Gemeindevorsteher, kränklich aussehende Personen als letzte zum Abendmahl nach vorne zu kommen. Das führte bei vielen auch zu Empörung, die nur wegen des Hungers ausgemergelt aussahen. In den Niederlanden änderte Apostel van Oosbree die Abendmahlpraxis, indem die Hostien auf kleinen Gäbelchen aufgespießt und in den Kelch getaucht und so dem Kommunikanten gereicht wurden. Die in den großen Kirchen teilweise eingeführte Praxis des Privatkelchs erschien zu für die meisten Gemeinden unerschwinglich zu sein.
Die rettende Idee: Beträufelte Hostien!
Als die Not immer größer wurde und viele Geschwister aus Angst vor Ansteckung nicht mehr am Gemeinschaftsmahl teilnahmen, kam Stammapostel Niehaus die rettende Idee: Die bisher schon für die Feldgrauen eingesetzte Praxis mit beträufelten Hostien führte er ab Karfreitag 1917 - 6. April 1917 -in seinem Bezirk ein. Den Aposteln stellte er frei, sich diesem Verfahren anzuschließen. Bis auf die Niederlande geschah das auch. So darf Karfreitag 1917 als die Geburtsstunde einer besonderen Abendmahlspraxis der Neuapostolischen Kirche angesehen werden.
Viele theologische Fragen im Vorfeld
Bis die neue Abendmahlpraxis eingeführt wurde, waren viele theologische Fragen im Apostelkreis und unter den Geschwistern gestellt worden:
Stammapostel Niehaus machte deutlich, dass es nicht auf die äußere Form und die Menge ankommt, sondern das Entscheidende das hinzutretende Opfer Jesu ist.
Mit der neuen Abendmahlpraxis hörten auch Verleumdungen auf, in Ermangelung von Rotwein wäre Himbeersirup im Kelch gewesen, oder der Messwein sei so verdünnt worden, dass es eigentlich kein Wein mehr gewesen sei. In beiden Fällen wurde die Gültigkeit und Wirksamkeit des Hl. Abendmahls in Frage gestellt.
So berichtet die Neuapostolische Rundschau aus dem Jahre 1923, dass im Zeichen der Inflation auch die Herstellung von beträufelten Hostie an die Grenzen des Machbaren stieß und bei großen Gottesdienstes z.B. die Hostien fein säuberlich mit Scherenschnitt geteilt wurden und die doppelte Anzahl Gläubiger versorgt werden konnte.
Große Herausforderungen in der Praxis
Die neue Abendmahlpraxis bedeutete für die Vorsteher zunächst aber auch eine große Herausforderung. Beträufelte Hostien gab es im Kirchenhandel nirgends zu kaufen. Sie mussten also in Handarbeit für den Gottesdienst vorbereitet werden. Eine Schwester, deren Vater um diese Zeit Vorsteher einer großen Gemeinde mit fast 1000 Mitgliedern war, berichtete mir einmal, dass am Samstagnachmittag die ganze Familie – also Eltern und 5 Kinder – um den blankgescheuerten Küchentisch saßen und mehrere Stunden die Hostien mit einer Pipette beträufelten. Und das Auge des Vaters wachte darüber, dass auf jeder Hostie nur drei sorgsam aufgetragene rote Punkte zu sehen waren. Es war schon eine Erleichterung, als ein Bruder eine Beträufelungsmaschine entwickelt hatte und nun immer mehrere Hostien gleichzeitig beträufelt werden konnten.
Wie heute bei ebay-Kleinanzeigen
Wenn man die Neuapostolische Rundschau von vor 100 Jahren durchblättert, fühlt man sich schmunzelnd w ein wenig an die "ebay - Kleinanzeigen" erinnert. Es wurde für alles und jedes geworben. U.a. auch für Abendmahlswein, Hostien und Abendmahlgeräte. Damals waren die Gemeinden noch autark. Es gab keine Kirchenverwaltungen, bei denen solche Mittel geordert werden konnten, sondern die Vorsteher waren gehalten sich um eine Bibel, Abendmahlgeräte und Hostien sowie Messwein selbst zu kümmern. Dies führt auch zu dem Ergebnis, dass die aus dieser Zeit erhalten gebliebenen Abendmahlgeräte - Weinkannen, Weinkelche und Hostienteller in Form und Aufmachung sehr unterschiedlich sind.
Auf dem Weg zur neuapostolischen Hostienbäckerei
Als nach dem Ersten Weltkrieg ein starkes Wachstum in der Neuapostolischen Kirche einsetzte, wurde der Wunsch nach einer einfacheren Handhabung immer drängender. Der neuapostolische Bäckermeister und Priester Max Pflug in Herne entwickelte eine Technik, mit der er den Gemeinden beträufelte Hostien zur Verfügung stellen konnte. Das war eine große Erleichterung für viele Gemeinden. 1931 übernahm die Neuapostolische Kirche seine Hostienbäckerei und verlegte den Sitz nach Bielefeld. Dort bis sie bis heute geblieben und beliefert heute viele Gebietskirchen auf der ganzen Erde. Am Verfahren hat sich bis heute nichts geändert. Beträufelte Hostien gehören zum Selbstverständnis neuapostolischer Christen.
Mehr Informationen
Wer sich weiter über Hostien und die neuapostolische Hostienbäckerei informieren möchte, findet eine umfangreich Dokumentation und sogar ein Video hier
Text: Alfred Krempf
Fotos NAK Zentralarchiv NRW
* Ähnlichkeiten des Namens mit einem Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg sind rein zufällig.
© Gruppe Zentralarchiv Westdeutschland